Hermann und Dorothea
Von Johann Wolfgang von Goethe

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Polyhymnia
Der Weltbürger

Aber es saßen die drei noch immer sprechend zusammen, Mit dem geistlichen Herrn der Apotheker beim Wirte, Und es war das Gespräch noch immer ebendasselbe, Das viel hin und her nach allen Seiten geführt ward. Aber der treffliche Pfarrer versetzte, würdig gesinnt, drauf: “Widersprechen will ich Euch nicht. Ich weiß es, der Mensch soll Immer streben zum Bessern; und, wie wir sehen, er strebt auch Immer dem Höheren nach, zum wenigsten sucht er das Neue. Aber geht nicht zu weit! Denn neben diesen Gefühlen Gab die Natur uns auch die Lust zu verharren im Alten Und sich dessen zu freun, was jeder lange gewohnt ist. Aller Zustand ist gut, der natürlich ist und vernünftig. Vieles wünscht sich der Mensch, und doch bedarf er nur wenig; Denn die Tage sind kurz, und beschränkt der Sterblichen Schicksal. Niemals tadl’ ich den Mann, der immer, tätig und rastlos Umgetrieben, das Meer und alle Straßen der Erde Kühn und emsig befährt und sich des Gewinnes erfreuet, Welcher sich reichlich um ihn und um die Seinen herum häuft; Aber jener ist auch mir wert, der ruhige Bürger, Der sein väterlich Erbe mit stillen Schritten umgehet Und die Erde besorgt, so wie es die Stunden gebieten. Nicht verändert sich ihm in jedem Jahre der Boden, Nicht streckt eilig der Baum, der neugepflanzte, die Arme Gegen den Himmel aus, mit reichlichen Blüten gezieret. Nein, der Mann bedarf der Geduld; er bedarf auch des reinen, Immer gleichen, ruhigen Sinns und des graden Verstandes. Denn nur wenige Samen vertraut er der nährenden Erde, Wenige Tiere nur versteht er, mehrend, zu ziehen; Denn das Nützliche bleibt allein sein ganzer Gedanke. Glücklich, wem die Natur ein so gestimmtes Gemüt gab! Er ernähret uns alle. Und Heil dem Bürger des kleinen Städtchens, welcher ländlich Gewerb mit Bürgergewerb paart! Auf ihm liegt nicht der Druck, der ängstlich den Landmann beschränket; Ihn verwirrt nicht die Sorge der viel begehrenden Städter, Die dem Reicheren stets und dem Höheren, wenig vermögend, Nachzustreben gewohnt sind, besonders die Weiber und Mädchen. Segnet immer darum des Sohnes ruhig Bemühen Und die Gattin, die einst er, die gleichgesinnte, sich wählet.”

Also sprach er. Es trat die Mutter zugleich mit dem Sohn ein, Führend ihn bei der Hand und vor den Gatten ihn stellend. “Vater”, sprach sie, “wie oft gedachten wir, untereinander Schwatzend, des fröhlichen Tags, der kommen würde, wenn künftig Hermann, seine Braut sich erwählend, uns endlich erfreute! Hin und wider dachten wir da; bald dieses, bald jenes Mädchen bestimmten wir ihm mit elterlichem Geschwätze. Nun ist er kommen, der Tag; nun hat die Braut ihm der Himmel Hergeführt und gezeigt, es hat sein Herz nun entschieden. Sagten wir damals nicht immer: er solle selber sich wählen? Wünschtest du nicht noch vorhin, er möchte heiter und lebhaft Für ein Mädchen empfinden? Nun ist die Stunde gekommen! Ja, er hat gefühlt und gewählt und ist männlich entschieden. Jenes Mädchen ist’s, die Fremde, die ihm begegnet. Gib sie ihm; oder er bleibt, so schwur er, im ledigen Stande.”

Und es sagte der Sohn: “Die gebt mir, Vater! Mein Herz hat Rein und sicher gewählt; Euch ist sie die würdigste Tochter.”

Aber der Vater schwieg. Da stand der Geistliche schnell auf, Nahm das Wort und sprach: “Der Augenblick nur entscheidet Über das Leben des Menschen und über sein ganzes Geschicke; Denn nach langer Beratung ist doch ein jeder Entschluß nur Werk des Moments, es ergreift doch nur der Verständ’ge das Rechte. Immer gefährlicher ist’s, beim Wählen dieses und jenes Nebenher zu bedenken und so das Gefühl zu verwirren. Rein ist Hermann, ich kenn ihn von Jugend auf, und er streckte Schon als Knabe die Hände nicht aus nach diesem und jenem. Was er begehrte, das war ihm gemäß; so hielt er es fest auch. Seid nicht scheu und verwundert, daß nun auf einmal erscheinet, Was Ihr so lange gewünscht. Es hat die Erscheinung fürwahr nicht Jetzt die Gestalt des Wunsches, so wie Ihr ihn etwa geheget. Denn die Wünsche verhüllen uns selbst das Gewünschte; die Gaben Kommen von oben herab, in ihren eignen Gestalten. Nun verkennet es nicht, das Mädchen, das Eurem geliebten, Guten, verständigen Sohn zuerst die Seele bewegt hat. Glücklich ist der, dem sogleich die erste Geliebte die Hand reicht, Dem der lieblichste Wunsch nicht heimlich im Herzen verschmachtet! Ja, ich seh es ihm an, es ist sein Schicksal entschieden. Wahre Neigung vollendet sogleich zum Manne den Jüngling. Nicht beweglich ist er; ich fürchte, versagt Ihr ihm dieses, Gehen die Jahre dahin, die schönsten, in traurigem Leben.”

Da versetzte sogleich der Apotheker bedächtig, Dem schon lange das Wort von der Lippe zu springen bereit war: “Laßt uns auch diesmal doch nur die Mittelstraße betreten! Eile mit Weile! das war selbst Kaiser Augustus’ Devise. Gerne schick ich mich an, den lieben Nachbarn zu dienen, Meinen geringen Verstand zu ihrem Nutzen zu brauchen: Und besonders bedarf die Jugend, daß man sie leite. Laßt mich also hinaus; ich will es prüfen, das Mädchen, Will die Gemeinde befragen, in der sie lebt und bekannt ist. Niemand betriegt mich so leicht; ich weiß die Worte zu schätzen.”

Da versetzte sogleich der Sohn mit geflügelten Worten: “Tut es, Nachbar, und geht und erkundigt Euch. Aber ich wünsche, Daß der Herr Pfarrer sich auch in Eurer Gesellschaft befinde; Zwei so treffliche Männer sind unverwerfliche Zeugen. Oh, mein Vater! sie ist nicht hergelaufen, das Mädchen, Keine, die durch das Land auf Abenteuer umherschweift, Und den Jüngling bestrickt, den unerfahrnen, mit Ränken. Nein; das wilde Geschick des allverderblichen Krieges, Das die Welt zerstört und manches feste Gebäude Schon aus dem Grunde gehoben, hat auch die Arme vertrieben. Streifen nicht herrliche Männer von hoher Geburt nun im Elend? Fürsten fliehen vermummt, und Könige leben verbannet. Ach, so ist auch sie, von ihren Schwestern die beste, Aus dem Lande getrieben; ihr eignes Unglück vergessend, Steht sie anderen bei, ist ohne Hülfe noch hülfreich. Groß sind Jammer und Not, die über die Erde sich breiten; Sollte nicht auch ein Glück aus diesem Unglück hervorgehn Und ich, im Arme der Braut, der zuverlässigen Gattin, Mich nicht erfreuen des Kriegs, so wie Ihr des Brandes Euch freutet?”

Da versetzte der Vater und tat bedeutend den Mund auf: “Wie ist, o Sohn, dir die Zunge gelöst, die schon dir im Munde Lange Jahre gestockt und nur sich dürftig bewegte! Muß ich doch heut erfahren, was jedem Vater gedroht ist: Daß den Willen des Sohns, den heftigen, gerne die Mutter Allzu gelind begünstigt und jeder Nachbar Partei nimmt, Wenn es über den Vater nun hergeht oder den Ehmann. Aber ich will euch zusammen nicht widerstehen; was hülf’ es? Denn ich sehe doch schon hier Trotz und Tränen im voraus. Gehet und prüfet und bringt in Gottes Namen die Tochter Mir ins Haus; wo nicht, so mag er das Mädchen vergessen!”

Also der Vater. Es rief der Sohn mit froher Gebärde: “Noch vor Abend ist Euch die trefflichste Tochter bescheret, Wie sie der Mann sich wünscht, dem ein kluger Sinn in der Brust lebt. Glücklich ist die Gute dann auch, so darf ich es hoffen. Ja, sie danket mir ewig, daß ich ihr Vater und Mutter Wiedergegeben in Euch, so wie sie verständige Kinder Wünschen. Aber ich zaudre nicht mehr; ich schirre die Pferde Gleich und führe die Freunde hinaus auf die Spur der Geliebten, Überlasse die Männer sich selbst und der eigenen Klugheit, Richte, so schwör ich Euch zu, mich ganz nach ihrer Entscheidung, Und ich seh es nicht wieder, als bis es mein ist, das Mädchen.” Und so ging er hinaus, indessen manches die andern Weislich erwogen und schnell die wichtige Sache besprachen.

Hermann eilte zum Stalle sogleich, wo die mutigen Hengste Ruhig standen und rasch den reinen Hafer verzehrten Und das trockene Heu, auf der besten Wiese gehauen. Eilig legt’ er ihnen darauf das blanke Gebiß an, Zog die Riemen sogleich durch die schön versilberten Schnallen Und befestigte dann die langen, breiteren Zügel, Führte die Pferde heraus in den Hof, wo der willige Knecht schon Vorgeschoben die Kutsche, sie leicht an der Deichsel bewegend. Abgemessen knüpften sie drauf an die Waage mit saubern Stricken die rasche Kraft der leicht hinziehenden Pferde. Hermann faßte die Peitsche; dann saß er und rollt’ in den Torweg. Als die Freunde nun gleich die geräumigen Plätze genommen, Rollte der Wagen eilig und ließ das Pflaster zurücke, Ließ zurück die Mauern der Stadt und die reinlichen Türme. So fuhr Hermann dahin, der wohlbekannten Chaussee zu, Rasch, und säumete nicht und fuhr bergan wie bergunter. Als er aber nunmehr den Turm des Dorfes erblickte Und nicht fern mehr lagen die gartenumgebenen Häuser, Dacht’ er bei sich selbst, nun anzuhalten die Pferde.

Von dem würdigen Dunkel erhabener Linden umschattet, Die Jahrhunderte schon an dieser Stelle gewurzelt, War mit Rasen bedeckt ein weiter grünender Anger Vor dem Dorfe, den Bauern und nahen Städtern ein Lustort. Flach gegraben befand sich unter den Bäumen ein Brunnen. Stieg man die Stufen hinab, so zeigten sich steinerne Bänke, Rings um die Quelle gesetzt, die immer lebendig hervorquoll, Reinlich, mit niedriger Mauer gefaßt, zu schöpfen bequemlich. Hermann aber beschloß, in diesem Schatten die Pferde Mit dem Wagen zu halten. Er tat so und sagte die Worte: “Steiget, Freunde, nun aus und geht, damit Ihr erfahret, Ob das Mädchen auch wert der Hand sei, die ich ihr biete. Zwar ich glaub es, und mir erzählt Ihr nichts Neues und Seltnes; Hätt’ ich allein zu tun, so ging’ ich behend zu dem Dorf hin, Und mit wenigen Worten entschiede die Gute mein Schicksal. Und Ihr werdet sie bald vor allen andern erkennen; Denn wohl schwerlich ist an Bildung ihr eine vergleichbar. Aber ich geb Euch noch die Zeichen der reinlichen Kleider: Denn der rote Latz erhebt den gewölbeten Busen, Schön geschnürt, und es liegt das schwarze Mieder ihr knapp an; Sauber hat sie den Saum des Hemdes zur Krause gefaltet, Die ihr das Kinn umgibt, das runde, mit reinlicher Anmut; Frei und heiter zeigt sich des Kopfes zierliches Eirund; Stark sind vielmal die Zöpfe um silberne Nadeln gewickelt; Vielgefaltet und blau fängt unter dem Latze der Rock an Und umschlägt ihr im Gehn die wohlgebildeten Knöchel. Doch das will ich Euch sagen und noch mir ausdrücklich erbitten: Redet nicht mit dem Mädchen, und laßt nicht merken die Absicht, Sondern befraget die andern und hört, was sie alles erzählen. Habt Ihr Nachricht genug, zu beruhigen Vater und Mutter, Kehret zu mir dann zurück, und wir bedenken das Weitre. Also dacht’ ich mir’s aus, den Weg her, den wir gefahren.”

Also sprach er. Es gingen darauf die Freunde dem Dorf zu, Wo in Gärten und Scheunen und Häusern die Menge von Menschen Wimmelte, Karrn an Karrn die breite Straße dahin stand. Männer versorgten das brüllende Vieh und die Pferd’ an den Wagen, Wäsche trockneten emsig auf allen Hecken die Weiber, Und es ergötzten die Kinder sich plätschernd im Wasser des Baches. Also durch die Wagen sich drängend, durch Menschen und Tiere, Sahen sie rechts und links sich um, die gesendeten Späher, Ob sie nicht etwa das Bild des bezeichneten Mädchens erblickten; Aber keine von allen erschien die herrliche Jungfrau. Stärker fanden sie bald das Gedränge. Da war um die Wagen Streit der drohenden Männer, worein sich mischten die Weiber, Schreiend. Da nahte sich schnell mit würdigen Schritten ein Alter, Trat zu den Scheltenden hin; und sogleich verklang das Getöse, Als er Ruhe gebot, und väterlich ernst sie bedrohte. “Hat uns”, rief er, “noch nicht das Unglück also gebändigt, Daß wir endlich verstehn, uns untereinander zu dulden Und zu vertragen, wenn auch nicht jeder die Handlungen abmißt? Unverträglich fürwahr ist der Glückliche! Werden die Leiden Endlich euch lehren, nicht mehr, wie sonst, mit dem Bruder zu hadern? Gönnet einander den Platz auf fremdem Boden und teilet, Was ihr habet, zusammen, damit ihr Barmherzigkeit findet!”

Also sagte der Mann, und alle schwiegen; verträglich Ordneten Vieh und Wagen die wieder besänftigten Menschen. Als der Geistliche nun die Rede des Mannes vernommen Und den ruhigen Sinn des fremden Richters entdeckte, Trat er an ihn heran und sprach die bedeutenden Worte: “Vater, fürwahr! wenn das Volk in glücklichen Tagen dahinlebt, Von der Erde sich nährend, die weit und breit sich auftut Und die erwünschten Gaben in Jahren und Monden erneuert, Da geht alles von selbst, und jeder ist sich der Klügste Wie der Beste; und so bestehen sie nebeneinander, Und der vernünftigste Mann ist wie ein andrer gehalten: Denn was alles geschieht, geht still, wie von selber, den Gang fort. Aber zerrüttet die Not die gewöhnlichen Wege des Lebens, Reißt das Gebäude nieder und wühlet Garten und Saat um, Treibt den Mann und das Weib vom Raume der traulichen Wohnung, Schleppt in die Irre sie fort, durch ängstliche Tage und Nächte: Ach! da sieht man sich um, wer wohl der verständigste Mann sei, Und er redet nicht mehr die herrlichen Worte vergebens. Sagt mir, Vater, Ihr seid gewiß der Richter von diesen Flüchtigen Männern, der Ihr sogleich die Gemüter beruhigt? Ja, Ihr erscheint mir heut als einer der ältesten Führer, Die durch Wüsten und Irren vertriebene Völker geleitet. Denk ich doch eben, ich rede mit Josua oder mit Moses.”

Und es versetzte darauf mit ernstem Blicke der Richter: “Wahrlich, unsere Zeit vergleicht sich den seltensten Zeiten, Die die Geschichte bemerkt, die heilige wie die gemeine. Denn wer gestern und heut in diesen Tagen gelebt hat, Hat schon Jahre gelebt: so drängen sich alle Geschichten. Denk ich ein wenig zurück, so scheint mir ein graues Alter Auf dem Haupte zu liegen, und doch ist die Kraft noch lebendig. Oh, wir anderen dürfen uns wohl mit jenen vergleichen, Denen in ernster Stund’ erschien im feurigen Busche Gott der Herr; auch uns erschien er in Wolken und Feuer.”

Als nun der Pfarrer darauf noch weiter zu sprechen geneigt war Und das Schicksal des Manns und der Seinen zu hören verlangte, Sagte behend der Gefährte mit heimlichen Worten ins Ohr ihm: “Sprecht mit dem Richter nur fort und bringt das Gespräch auf das Mädchen. Aber ich gehe herum, sie aufzusuchen, und komme Wieder, sobald ich sie finde.” Es nickte der Pfarrer dagegen, Und durch die Hecken und Gärten und Scheunen suchte der Späher.

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