Die Leiden des jungen Werther
von Johann Wolfgang von Goethe

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Am 6. Julius


Solitary Tree (Caspar David Friedrich)

Sie ist immer um ihre sterbende Freundin, und ist immer dieselbe, immer das gegenwärtige, holde Geschöpf, das, wo sie hinsieht, Schmerzen lindert und Glückliche macht. Sie ging gestern abend mit Marianen und dem kleinen Malchen spazieren, ich wußte es und traf sie an, und wir gingen zusammen. Nach einem Wege von anderthalb Stunden kamen wir gegen die Stadt zurück, an den Brunnen, der mir so wert und nun tausendmal werter ist. Lotte setzte sich aufs Mäuerchen, wir standen vor ihr. Ich sah umher, ach, und die Zeit, da mein Herz so allein war, lebte wieder vor mir auf.—"Lieber Brunnen”, sagte ich, “seither hab’ ich nicht mehr an deiner Kühle geruht, hab’ in eilendem Vorübergehn dich manchmal nicht angesehn”.—Ich blickte hinab und sah, daß Malchen mit einem Glase Wasser sehr beschäftigt heraufstieg.—Ich sah Lotten an und fühlte alles, was ich an ihr habe. Indem kommt Malchen mit einem Glase. Mariane wollt’ es ihr abnehmen: “nein!" rief das Kind mit dem süßesten Ausdrucke,"nein, Lottchen, du sollst zuerst trinken!"—ich ward über die Wahrheit, über die Güte, womit sie das ausrief, so entzückt, daß ich meine Empfindung mit nichts ausdrücken konnte, als ich nahm das Kind von der Erde und küßte es lebhaft, das sogleich zu schreien und zu weinen anfing.—"Sie haben übel getan”, sagte Lotte.—Ich war betroffen.—"komm, Malchen, “fuhr sie fort, indem sie es bei der Hand nahm und die Stufen hinabführte, “da wasche dich aus der frischen Quelle geschwind, geschwind, da tut’s nichts”.—Wie ich so dastand und zusah, mit welcher Emsigkeit das Kleine seinen nassen Händchen die Backen rieb, mit welchem Glauben, daß durch die Wunderquelle alle Verunreinigung abgespült und die Schmach abgetan würde, einen häßlichen Bart zu kriegen; wie Lotte sagte:"es ist genug!"und das Kind doch immer eifrig fortwusch, als wenn Viel mehr täte als Wenig—ich sage dir, Wilhelm, ich habe mit mehr Respekt nie einer Taufhandlung beigewohnt; und als Lotte heraufkam, hätte ich mich gern vor ihr niedergeworfen wie vor einem Propheten, der die Schulden einer Nation weggeweiht hat.

Des Abends konnte ich nicht umhin, in der Freude meines Herzens den Vorfall einem Manne zu erzählen, dem ich Menschensinn zutraute, weil er Verstand hat; aber wie kam ich an! Er sagte, das sei sehr übel von Lotten gewesen; man solle den Kindern nichts weis machen; dergleichen gebe zu unzähligen Irrtümern und Aberglauben Anlaß, wovor man die Kinder frühzeitig bewahren müsse.—nun fiel mir ein, daß der Mann vor acht Tagen hatte taufen lassen, drum ließ ich’s vorbeigehen und blieb in meinem Herzen der Wahrheit getreu: wir sollen es mit den Kindern machen wie Gott mit uns, der uns am glücklichsten macht, wenn er uns in freundlichem Wahne so hintaumeln läßt.

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