Die Geburt der Tragödie
Von Friedrich Wilhelm Nietzsche

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22.

Mag der aufmerksame Freund sich die Wirkung einer wahren musikalischen Tragödie rein und unvermischt, nach seinen Erfahrungen vergegenwärtigen. Ich denke das Phänomen dieser Wirkung nach beiden Seiten hin so beschrieben zu haben, dass er sich seine eignen Erfahrungen jetzt zu deuten wissen wird. Er wird sich nämlich erinnern, wie er, im Hinblick auf den vor ihm sich bewegenden Mythus, zu einer Art von Allwissenheit sich gesteigert fühlte, als ob jetzt die Sehkraft seiner Augen nicht nur eine Flächenkraft sei, sondern in’s Innere zu dringen vermöge, und als ob er die Wallungen des Willens, den Kampf der Motive, den anschwellenden Strom der Leidenschaften, jetzt, mit Hülfe der Musik, gleichsam sinnlich sichtbar, wie eine Fülle lebendig bewegter Linien und Figuren vor sich sehe und damit bis in die zartesten Geheimnisse unbewusster Regungen hinabtauchen könne. Während er so einer höchsten Steigerung seiner auf Sichtbarkeit und Verklärung gerichteten Triebe bewusst wird, fühlt er doch eben so bestimmt, dass diese lange Reihe apollinischer Kunstwirkungen doch nicht jenes beglückte Verharren in willenlosem Anschauen erzeugt, das der Plastiker und der epische Dichter, also die eigentlich apollinischen Künstler, durch ihre Kunstwerke bei ihm hervorbringen: das heisst die in jenem Anschauen erreichte Rechtfertigung der Welt der individuatio, als welche die Spitze und der Inbegriff der apollinischen Kunst ist. Er schaut die verklärte Welt der Bühne und verneint sie doch. Er sieht den tragischen Helden vor sich in epischer Deutlichkeit und Schönheit und erfreut sich doch an seiner Vernichtung. Er begreift bis in’s Innerste den Vorgang der Scene und flüchtet sich gern in’s Unbegreifliche. Er fühlt die Handlungen des Helden als gerechtfertigt und ist doch noch mehr erhoben, wenn diese Handlungen den Urheber vernichten. Er schaudert vor den Leiden, die den Helden treffen werden und ahnt doch bei ihnen eine höhere, viel übermächtigere Lust. Er schaut mehr und tiefer als je und wünscht sich doch erblindet. Woher werden wir diese wunderbare Selbstentzweiung, dies Umbrechen der apollinischen Spitze, abzuleiten haben, wenn nicht aus dem dionysischen Zauber, der, zum Schein die apollinischen Regungen auf’s Höchste reizend, doch noch diesen Ueberschwang der apollinischen Kraft in seinen Dienst zu zwingen vermag. Der tragische Mythus ist nur zu verstehen als eine Verbildlichung dionysischer Weisheit durch apollinische Kunstmittel; er führt die Welt der Erscheinung an die Grenzen, wo sie sich selbst verneint und wieder in den Schooss der wahren und einzigen Realität zurückzuflüchten sucht; wo sie dann, mit Isolden, ihren metaphysischen Schwanengesang also anzustimmen scheint:

    In des Wonnemeeres
    wogendem Schwall,
    in der Duft – Wellen
    tönendem Schall,
    in des Weltathems
    wehendem All
    ertrinken – versinken
    unbewusst – höchste Lust!

So vergegenwärtigen wir uns, an den Erfahrungen des wahrhaft aesthetischen Zuhörers, den tragischen Künstler selbst, wie er, gleich einer üppigen Gottheit der individuatio, seine Gestalten schafft, in welchem Sinne sein Werk kaum als “Nachahmung der Natur” zu begreifen wäre – wie dann aber sein ungeheurer dionysischer Trieb diese ganze Welt der Erscheinungen verschlingt, um hinter ihr und durch ihre Vernichtung eine höchste künstlerische Urfreude im Schoosse des Ur-Einen ahnen zu lassen. Freilich wissen von dieser Rückkehr zur Urheimat, von dem Bruderbunde der beiden Kunstgottheiten in der Tragödie und von der sowohl apollinischen als dionysischen Erregung des Zuhörers unsere Aesthetiker nichts zu berichten, während sie nicht müde werden, den Kampf des Helden mit dem Schicksal, den Sieg der sittlichen Weltordnung oder eine durch die Tragödie bewirkte Entladung von Affecten als das eigentlich Tragische zu charakterisiren: welche Unverdrossenheit mich auf den Gedanken bringt, sie möchten überhaupt keine aesthetisch erregbaren Menschen sein und beim Anhören der Tragödie vielleicht nur als moralische Wesen in Betracht kommen. Noch nie, seit Aristoteles, ist eine Erklärung der tragischen Wirkung gegeben worden, aus der auf künstlerische Zustände, auf eine aesthetische Thätigkeit der Zuhörer geschlossen werden dürfte. Bald soll Mitleid und Furchtsamkeit durch die ernsten Vorgänge zu einer erleichternden Entladung gedrängt werden, bald sollen wir uns bei dem Sieg guter und edler Principien, bei der Aufopferung des Helden im Sinne einer sittlichen Weltbetrachtung erhoben und begeistert fühlen; und so gewiss ich glaube, dass für zahlreiche Menschen gerade das und nur das die Wirkung der Tragödie ist, so deutlich ergiebt sich daraus, dass diese alle, sammt ihren interpretirenden Aesthetikern, von der Tragödie als einer höchsten Kunst nichts erfahren haben. Jene pathologische Entladung, die Katharsis des Aristoteles, von der die Philologen nicht recht wissen, ob sie unter die medicinischen oder die moralischen Phänomene zu rechnen sei, erinnert an eine merkwürdige Ahnung Goethe’s. “Ohne ein lebhaftes pathologisches Interesse”, sagt er, “ist es auch mir niemals gelungen, irgend eine tragische Situation zu bearbeiten, und ich habe sie daher lieber vermieden als aufgesucht. Sollte es wohl auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen sein, dass das höchste Pathetische auch nur aesthetisches Spiel bei ihnen gewesen wäre, da bei uns die Naturwahrheit mitwirken muss, um ein solches Werk hervorzubringen?” Diese so tiefsinnige letzte Frage dürfen wir jetzt, nach unseren herrlichen Erfahrungen, bejahen, nachdem wir gerade an der musikalischen Tragödie mit Staunen erlebt haben, wie wirklich das höchste Pathetische doch nur ein aesthetisches Spiel sein kann: weshalb wir glauben dürfen, dass erst jetzt das Urphänomen des Tragischen mit einigem Erfolg zu beschreiben ist. Wer jetzt noch nur von jenen stellvertretenden Wirkungen aus ausseraesthetischen Sphären zu erzählen hat und über den pathologisch – moralischen Prozess sich nicht hinausgehoben fühlt, mag nur an seiner aesthetischen Natur verzweifeln: wogegen wir ihm die Interpretation Shakespeare’s nach der Manier des Gervinus und das fleissige Aufspüren der “poetischen Gerechtigkeit” als unschuldigen Ersatz anempfehlen.

So ist mit der Wiedergeburt der Tragödie auch der aesthetische Zuhörer wieder geboren, an dessen Stelle bisher in den Theaterräumen ein seltsames Quidproquo, mit halb moralischen und halb gelehrten Ansprüchen, zu sitzen pflegte, der “Kritiker”. In seiner bisherigen Sphäre war Alles künstlich und nur mit einem Scheine des Lebens übertüncht. Der darstellende Künstler wusste in der That nicht mehr, was er mit einem solchen, kritisch sich gebärdenden Zuhörer zu beginnen habe und spähte daher, sammt dem ihn inspirirenden Dramatiker oder Operncomponisten, unruhig nach den letzten Resten des Lebens in diesem anspruchsvoll öden und zum Geniessen unfähigen Wesen. Aus derartigen “Kritikern” bestand aber bisher das Publicum; der Student, der Schulknabe, ja selbst das harmloseste weibliche Geschöpf war wider sein Wissen bereits durch Erziehung und Journale zu einer gleichen Perception eines Kunstwerks vorbereitet. Die edleren Naturen unter den Künstlern rechneten bei einem solchen Publicum auf die Erregung moralisch – religiöser Kräfte, und der Anruf der “sittlichen Weltordnung” trat vikarirend ein, wo eigentlich ein gewaltiger Kunstzauber den ächten Zuhörer entzücken sollte. Oder es wurde vom Dramatiker eine grossartigere, mindestens aufregende Tendenz der politischen und socialen Gegenwart so deutlich vorgetragen, dass der Zuhörer seine kritische Erschöpfung vergessen und sich ähnlichen Affecten überlassen konnte, wie in patriotischen oder kriegerischen Momenten, oder vor der Rednerbühne des Parlaments oder bei der Verurtheilung des Verbrechens und des Lasters: welche Entfremdung der eigentlichen Kunstabsichten hier und da geradezu zu einem Cultus der Tendenz führen musste. Doch hier trat ein, was bei allen erkünstelten Künsten von jeher eingetreten ist, eine reissend schnelle Depravation jener Tendenzen, so dass zum Beispiel die Tendenz, das Theater als Veranstaltung zur moralischen Volksbildung zu verwenden, die zu Schiller’s Zeit ernsthaft genommen wurde, bereits unter die unglaubwürdigen Antiquitäten einer überwundenen Bildung gerechnet wird. Während der Kritiker in Theater und Concert, der Journalist in der Schule, die Presse in der Gesellschaft zur Herrschaft gekommen war, entartete die Kunst zu einem Unterhaltungsobject der niedrigsten Art, und die aesthetische Kritik wurde als das Bindemittel einer eiteln, zerstreuten, selbstsüchtigen und überdies ärmlich – unoriginalen Geselligkeit benutzt, deren Sinn jene Schopenhauerische Parabel von den Stachelschweinen zu verstehen giebt; so dass zu keiner Zeit so viel über Kunst geschwatzt und so wenig von der Kunst gehalten worden ist. Kann man aber mit einem Menschen noch verkehren, der im Stande ist, sich über Beethoven und Shakespeare zu unterhalten? Mag Jeder nach seinem Gefühl diese Frage beantworten: er wird mit der Antwort jedenfalls beweisen, was er sich unter “Bildung” vorstellt, vorausgesetzt dass er die Frage überhaupt zu beantworten sucht und nicht vor Ueberraschung bereits verstummt ist.

Dagegen dürfte mancher edler und zarter von der Natur Befähigte, ob er gleich in der geschilderten Weise allmählich zum kritischen Barbaren geworden war, von einer eben so unerwarteten als gänzlich unverständlichen Wirkung zu erzählen haben, die etwa eine glücklich gelungene Lohengrinaufführung auf ihn ausübte: nur dass ihm vielleicht jede Hand fehlte, die ihn mahnend und deutend anfasste, so dass auch jene unbegreiflich verschiedenartige und durchaus unvergleichliche Empfindung, die ihn damals erschütterte, vereinzelt blieb und wie ein räthselhaftes Gestirn nach kurzem Leuchten erlosch. Damals hatte er geahnt, was der aesthetische Zuhörer ist.

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Versuch einer Selbstkritik. - 1.  •  2.  •  3.  •  4.  •  5.  •  6.  •  7.  •  Vorwort an Richard Wagner.  •  1.  •  2.  •  3.  •  4.  •  5.  •  6.  •  7.  •  8.  •  9.  •  10.  •  11.  •  12.  •  13.  •  14.  •  15.  •  16.  •  17.  •  18.  •  19.  •  20.  •  21.  •  22.  •  23.  •  24.  •  25.